Es gibt wohl kaum eine Branche, in der sich das Konsumentenverhalten in den letzten Jahren so schnell und so stark verändert hat wie im Einzelhandel. Das Statistische Bundesamt (Destatis) meldet in der Zeitspanne von Mai bis September 2021 einen Anstieg der Online-Verkäufe um 36 Prozent – im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2019. Was kommt als nächstes? Meine Prognosen für den E-Commerce 2022.
1. Die Liebe von Kunden lässt sich nicht kaufen – oder doch? Einzelhändler investieren in moderne Plattformen, um die Kundenbindung zu stärken
Immer mehr Einzelhändler investieren vermehrt in moderne Handelsplattformen, über deren Vorteile sich sowohl die IT- als auch die Marketingabteilungen einig sind. Laut dem Marktforschungsunternehmen Forrester planen 22 Prozent der Software-Entscheidungsträger, die bisher noch keine Software-as-a-Service-Plattform im E-Commerce im Einsatz haben, dies nächstes Jahr zu ändern. Laut MarTech-Report 2021/22 sind auch die Marketingteams immer stärker in Entscheidungen zur Verbesserung digitaler Commerce-Funktionen involviert: Marketing-LeiterInnen auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, die messbaren Mehrwert liefern, sind überzeugt, dass innovative Technologien grundlegend für weiteres Wachstum sind und setzen sich mit Nachdruck dafür ein. Sowohl Mitarbeiter*innen als auch die Endnutzer*innen profitieren von Investitionen in moderne Commerce-Architekturen. Jahrelang wurden Frontend-Entwickler durch starre, monolithische Systeme eingeschränkt – eine arbeitsintensive und frustrierende Situation, denn es war extrem kompliziert, verändernden Verbraucherpräferenzen gerecht zu werden. Das wiederum wirkte sich negativ auf die Kundenbindung aus. Agile Software, die auf dem MACH-Prinzip basiert (Microservices, API-first, Cloud-native und Headless), bietet enormen Flexibilitätsgewinn. Durch Investitionen in derartige Systeme können Teams neue Commerce-Funktionen, die das Nutzererlebnis verbessern, testen und jederzeit einführen. Das wiederum erhöht Kundenzufriedenheit und Wettbewerbsdifferenzierung.
2. Der Hype um Online-Marktplätze kühlt ab, wenn Marken den Direct-to-Consumer-Handel (DTC) stärker nutzen
2021 war das Jahr der digitalen Marktplätze. Es gab eine Vielzahl von Übernahmen durch Giganten wie Amazon oder ASOS, nahezu jedes Produkt wird derzeit darüber verkauft. 2022 hingegen werden Unternehmen erkennen, dass nicht jede Marke auf diesem Kanal gut platziert ist. Online-Marktplätze sind für Tech-Giganten und gut aufgestellte Einzelhändler die richtige Wahl, nicht aber für den Vertrieb sämtlicher Markenprodukte. Unternehmen, die auf digitalen Marktplätzen ihre Artikel anbieten, verlieren die Kontrolle über Kauferfahrung, Abwicklung und vieles mehr. 2022 werden Marken entdecken, wie viel besser es ist, ihre Produkte direkt zu verkaufen. So sprechen sie ihre Kunden selbst an, gestalten das Shopping-Erlebnis individuell und umgehen Zwischenhändler und Kosten, die diese veranschlagen würden.
3. Viele Einzelhändler setzen die Umstellung auf die neue Technologie selbst um
COVID-19 treibt die digitale Transformation voran, und Einzelhändler waren gezwungen, diesen Weg mitzugehen, um sich den rasanten Entwicklungen anzupassen. Viele investierten in technisch versierte Mitarbeiter*innen, um flexibler und unabhängiger zu werden. So konnte mehr Arbeit intern erledigt werden, und die Unternehmen erlebten, wie wichtig Technologie als Wettbewerbsfaktor ist. Und tatsächlich: Etwa die Hälfte der Kunden von commercetools konnte die Plattform 2021 bereits ohne externe Hilfe implementieren. Es ist noch gar nicht lange her, da war es undenkbar, die Implementierung ohne externen Systemspezialisten vorzunehmen. 2022 verstärkt sich der Trend zu technisch versierten Einzelhändlern. Die Folge: Immer mehr Unternehmen implementieren ihre Commerce-Plattformen selbst.
4. APPetisers anyone? Headless Commerce wird immer einfacher zu handhaben
Neben der steigenden Technikaffinität der Einzelhändler macht es auch neue Technologie den Marken leichter, das Einkaufserlebnis zu verbessern, denn sie wird in der Handhabung immer unkomplizierter. Headless-Commerce-Plattformen bieten eine abgekoppelte, flexible Umgebung, durch die Frontend-Entwickler schnell und unkompliziert so viele „Köpfe“ (= Kanäle) zu ihrem Commerce-Backend hinzuzufügen, wie sie benötigen. Das war bislang das bestgehütete Geheimnis der Branche, aber 2022 sinken die Zugangsbarrieren für Headless-Commerce-Software. Immer ausgereiftere Lösungen machen es auch technisch weniger versierten Mitarbeiter*Innen möglich, das Potenzial dieser Technologie zu erkennen, entsprechende Investitionen zu tätigen und Headless-Lösungen zu nutzen. Ein Beispiel dafür, dass das System “Headless” Mainstream wird, ist die Übernahme der führenden Composable-Frontend-Entwicklungsplattform Frontastic durch commercetools. So lässt sich die Geschwindigkeit und Flexibilität von Headless mit der Benutzerfreundlichkeit eines Website-Baukastens kombinieren.
5. Der E-Commerce von morgen ist standardisiert – zum Vorteil für alle
Eins ist klar: Der E-Commerce-Markt kann nicht mehr lang Hunderte von Plattformen verkraften. 2022 wird sich das Geschehen auf einige große Plattformen konzentrieren, die eine Vielzahl leistungsstarker und dennoch kostengünstiger und einfach nutzbarer Commerce-Funktionen anbieten. Diese Entwicklung lässt sich gut mit dem Markt öffentlicher Cloud-Anbieter vergleichen, auf dem AWS, Google Cloud und Microsoft Azure dominieren, oder mit dem Kommunikationsbereich, auf dem Twilio und die öffentlichen Clouds den Ton angeben. Voraussichtlich werden einige der Anbieter von Commerce-Plattformen Cloud-native sein. Da der Commerce zur Massenware wird, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Anbieter öffentlicher Clouds den Bedarf an Commerce-Funktionen in ihrem Portfolio erkennen und in diesen Bereich vorstoßen. Für den Einzelhandel ist die Konzentration auf einige wenige Anbieter ein echter Vorteil, denn so wird es leichter, passgenau die Technologien für ihren Bedarf herauszufiltern. So lassen sich unkomplizierte und individuelle Commerce-Erlebnisse kreieren. Die besten Tools auf dem Markt werden leicht erkennbar sein – und es wird einfach, daraus Kapital zu schöpfen.
6. GraphQL, wohin man blickt
Die Mehrheit der Einzelhändler wird 2022 GraphQL nutzen. Es entwickelt sich vom „Nice-to-have“ zur Grundlage der Tech-Strategie. Ganz gleich, ob zu viele oder zu wenige Daten abrufbar sind oder die Performance zu langsam ist – sämtliche Probleme, die mit GraphQL lösbar sind, bleiben im nächsten Jahr bestehen. GraphQL wird also weiter an Popularität gewinnen. Es gibt schlicht nichts Vergleichbares. Deshalb wird es sich zur Standard-Technologie entwickeln.
7. Die APPifizierung des Handels wird Realität
2021 gab es unzählige Start-ups, die sich auf eine spezielle Funktion im Commerce-Prozess konzentriert und sich damit zu profitablen Unternehmen entwickelt haben – so z.B. Fast and Bolt mit dem Checkout-as-a-Service, 7learnings mit einem Preis-Optimierungs-System oder Cahrgebee mit der Verwaltung wiederkehrender Abonnements. Diese Apps sind attraktive Angebote für Einzelhändler, weil sie erstklassige Einzellösungen anbieten, indem sie auf Nutzerdaten zurückgreifen: so beispielsweise ein Tool zur automatischen Vervollständigung von Suchbegriffen. Es verbessert die Nutzererfahrung auf Grundlage hunderttausender vorheriger Suchvorgänge vollautomatisch. Das Interesse an Best-of-Breed-Funktionen und deren unkomplizierter Nutzung wird in den nächsten Monaten steigen. Das wiederum fördert die Beliebtheit von Commerce-Portfolios, die einzelne Best-of-Breed-Funktionen bündeln und APIs anbieten, die separat entwickelt wurden und unabhängig voneinander praktisch à la carte genutzt und kombiniert werden können.
8. Der B2B-Handel wird erwachsen
COVID-19 hat auch das Kaufverhalten im B2B-Bereich komplett verändert. In einer aktuellen McKinsey-Studie zeigt sich, dass Einkäufer bei B2B-Abschlüssen heute lieber online einkaufen, als über ein persönliches Verkaufsgespräch. 41 Prozent der Führungskräfte nannten E-Commerce als ihren effektivsten Vertriebsweg, nur 37 Prozent den persönlichen Kontakt. Diese neue Entwicklung führt dazu, dass immer mehr B2B-Organisationen den Verkauf ihrer Produkte nicht mehr ausschließlich Vertriebspartnern überlassen, sondern erkennen, dass sie mindestens einen Vertriebskanal selbst steuern müssen. Sie werden garantiert in technische Weiterentwicklung investieren. Auch die wachsende Anzahl an Digital Natives am Arbeitsplatz treibt diese Entwicklung voran. Ihre vorrangigen Kommunikationswege finden mithilfe von Technologien statt. Infolgedessen werden sich Hersteller und B2B-Organisationen anpassen – und 2022 mehr in die Bereitstellung von E-Commerce-Funktionalitäten investieren.
Innovationen im Blick
2022 wird zweifelsohne ein entscheidendes Jahr für die E-Commerce-Technologie – von der einfacheren Nutzung des Headless-Commerce bis hin zur wachsenden technischen Versiertheit der Einzelhändler. Auch wenn es noch eine Portion Unsicherheit bezüglich der Konsumfreude bei den Verbrauchern gibt, wird es spannend zu beobachten, wie die Branche reift und die Technologie sich weiterentwickelt. Watch this space…